Brasiliens Präsident Luiz Inacio Lula da Silva spricht vor VW-Beschäftigten im Werk São Bernardo do Campo im Bundesstaat São Paulo. Foto: imago//Yuri Murakami
Milliarden-Investitionen fließen aus Europa nach Brasilien ab. Sie sind die Vorboten einer ökonomischen Kräfteverschiebung, die auch etwas mit der Energiewende zu tun hat.
Gute Nachrichten für die Belegschaft von Volkswagen in Brasilien. Der Autokonzern hat vor wenigen Tagen angekündigt, in drei Fabriken im Großraum São Paulo 16 Milliarden Real (umgerechnet etwa 2,2 Milliarden Euro) zu investieren. Weitere 500 Millionen Euro sind für Investitionen in das Werk in São Jose dos Pinhais im Süden des riesigen Landes vorgesehen. „Der Bundesstaat São Paulo ist von zentraler Bedeutung für die Geschäftsstrategie von Volkswagen Brasilien und seinen Partnern“, wird VW-Südamerikachef Alexander Seitz in brasilianischen Medien zitiert.
Von den Investitionsentscheidungen profitieren den VW-Angaben zufolge ungefähr 530 direkte und indirekte Zulieferer. In Brasilien, so ist der Eindruck, geht es mit Vollgas voran. Die Arbeitsplätze sind sicher.
Lula will Brasilien „reindustrialisieren“
Die Investitionszusagen kommen zu einer Zeit, in der der VW-Konzern im eigenen Land mit gewaltigen Problemen zu kämpfen hat und wo über Werksschließungen und Entlassungen nachgedacht wird. Während in Deutschland die Furcht vor einer Deindustrialisierung durch ein anhaltendes Unternehmens- und Fabriksterben sowie eine Produktionsverlagerung ins Ausland wächst, ist in Brasilien der gegenteilige Trend zu erkennen.
Brasiliens linksgerichteter Präsident Luiz Inacio Lula da Silva will das Land „reindustrialisieren”. Sein rechtspopulistischer Vorgänger Jair Bolsonaro hatte schon während der Coronapandemie einige Reformen auf den Weg gebracht. Und es scheint, als ginge der Plan ideologieübergreifend auf.
Auch aus China kommen in diesem Punkt immer größere Anstrengungen: Pekings Investitionen in Brasilien stiegen 2023 im Vergleich zum Vorjahr um 33 Prozent auf 1,73 Milliarden Dollar, meldete in dieser Woche das Brazil-China Business Council (CEBC). Schwerpunkt seien „grüne Energie“ und Elektroautos. Schon jetzt hat China eine Hand an der brasilianischen Hafen-Infrastruktur, über die in Zukunft brasilianischer Wasserstoff nach Europa geliefert werden soll.
Zur Investitionsoffensive tragen neben niedrigeren Lohnkosten und geringeren Umweltstandards, die Unternehmen zu erfüllen haben, auch langfristige Entwicklungen bei. Die Europäische Union hat Brasilien als einen potenziellen Zulieferer von grünem Wasserstoff identifiziert.
Deutsche Unternehmen klagen über hohe Energiepreise
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen treibt im Rahmen des „Green Deals“ das Projekt voran und gab Milliarden an Investitionszusagen für Wasserstoff-Projekte. Laut Nationalem Industrieverband CNI gibt es in Brasilien derzeit 20 Wasserstoffprojekte mit einem Gesamtinvestitionsvolumen von umgerechnet etwa 30 Milliarden Euro aus aller Welt.
In der Regel siedelt sich die Industrie dort an, wo es einen direkten und schnellen Zugang zu preisgünstiger Energie gibt. In Deutschland ist das durch den Gas-Lieferstopp aus Russland nicht mehr der Fall, deutsche Unternehmen klagen seitdem über zu hohe Energiepreise.
In anderen Branchen kommt es zu ähnlichen Entwicklungen. Während deutsche Supermärkte brasilianisches Rindfleisch während der Amtszeit Bolsonaros wegen dessen rücksichtsloser Umweltpolitik zum Schutz des Amazonas aus dem Regal nahmen, kündigen internationale Lebensmittelkonzerne inmitten derzeit tobender verheerender Großbrände im Amazonas und anderen Ökosystemen Investitionen von umgerechnet 19,3 Milliarden Euro bis 2026 an. Deutschlands Fleischboykott verpuffte ohnehin: Brasiliens Rindfleischexporte eilen von Rekord zu Rekord. Im April stiegen sie um 80 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat und erreichten 252 643 Tonnen.
Brasilien will die Waldschutzmaßnahmen entschärfen
Unterdessen treiben die EU und der südamerikanische Staatenbund Mercosur die Verhandlungen über den Abschluss eines seit Jahrzehnten stockenden Freihandelsabkommens voran. Entstehen würde dann der weltweit größte Handelsraum. Eine Bedingung der Südamerikaner und insbesondere der Brasilianer ist aber der teilweise Verzicht von Waldschutzmaßnahmen, wie sie insbesondere die europäischen Grünen einfordern. Lula nannte das bei einem der jüngsten Mercosur-Treffen „Grünen Kolonialismus“, dem sich Südamerika nicht zu unterwerfen gedenke. Aus deren Sicht haben Wirtschaftswachstum und Armutsbekämpfung größere Priorität. Auch deshalb treten internationale Konzerne verstärkt die Flucht nach Brasilien an oder bauen ihre Aktivitäten dort aus.
Die Verschiebungen der ökonomischen Kräfte werden unweigerlich Folgen für den deutschen Markt haben. Die sind bereits bei VW zu spüren. Konzernfinanzchef Arno Antlitz musste die schlechte Nachricht überbringen: Es müssen womöglich zwei Werke geschlossen werden. Investiert wird inzwischen erst einmal woanders.
Quelle: Tobias Käufer für Stuttgarter Zeitung